Reformkritiker Professor Friedhelm Hengsbach sprach bei der Gründung des Sozialforums Reutlingen am 15.10.2004

»Fehldiagnosen haben zu Hartz geführt«

Er ist ein Meister der unbequemen Thesen. Als Kritiker des schrittweisen Umbaus des Sozialstaates polarisiert Friedhelm Hengsbach - und lädt gleichzeitig dazu ein, Alternativen zur derzeitigen Politik zu bedenken und gängige Kausalitätsketten zu hinterfragen. Am Mittwochabend sprach Hengsbach bei der Gründung des Sozialforums Reutlingen im Matthäus-Alber-Haus zum Thema »Hartz IV und die Würde der Menschen«.

Hengsbach kritisiert nicht nur die Inhalte von Hartz-Katalogen, Gesundheits- und Rentenreform, sondern auch die Superlative, in denen sie jeweils angepriesen werden, wie auch die zur Begründung herangezogenen Trends. »Häufig sind das nur große Erzählungen, die als Erklärungsmethoden verwendet«, moniert der 77-jährige Jesuit, Professor für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt und Leiter des dortigen Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts.

»Deutschland ist nicht Opfer der Globalisierung, sondern ihr wichtigster Motor. Wir profitieren doch als Exportnation Nummer eins davon am meisten.« Dass Globalisierung, »technische Umwälzungen« oder »die Demografie« für die Krise der sozialen Sicherungssysteme verantwortlich gemacht werden, lässt Hengsbach nicht gelten. »Ich vermisse Begründungen, warum welche Maßnahme zu mehr Wachstum führen soll.«

Stattdessen spricht der Arbeitsethiker von drei »Fehldiagnosen«, auf deren Grundlage derzeit gehandelt werde. »Der Arbeitsmarkt ist der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum - klingt irgendwie plausibel, stimmt aber nicht«, sagt er. Als abgeleiteter Markt komme der Arbeitsmarkt immer erst dann in Schwung, wenn Güter- und Dienstleistungsmärkte florierten und einen Sog erzeugten.

Ähnlich häufig werde der Sozialstaat als Wachstumsbremse diagnostiziert - nach Hengsbach ebenfalls unzulässigerweise: »Das Gegenteil ist der Fall. Der Sozialstaat schafft Vertrauen und Sicherheit, und Gesundheit und Bildung sind nicht nur Kosten, sondern zu allererst Voraussetzungen dafür, dass Wirtschaftszweige produktiv sein können.«

Punkt Nummer drei: »Arbeitslosigkeit kommt durch individuelles Versagen zustande - diese Fehldiagnose ist der Schlüssel zu allen Hartz-Gesetzen«, so Hengsbach. Arbeitslosigkeit zähle jedoch, ebenso wie Krankheit oder Altersarmut, zu den gesellschaftlichen Risiken, die nicht dem Verhalten eines Einzelnen anzulasten seien, sondern nur solidarisch abgesichert werden könnten. »Die Logik der so genannten Reformen besteht darin, diese gesellschaftlichen Risiken zu individualisieren.« Mit der darin enthaltenen Verurteilung beginne jedoch für die jeweils Betroffenen der erste Schritt einer »Abwärtsspirale«. Politik müssen dagegen stets bedeuten, mehrere Möglichkeiten als Alternative zu haben und auszuhandeln.